Die Herausforderungen, vor denen die Europäische Union in der kommenden Legislaturperiode steht, sind vielfältig und anspruchsvoll: teure Energie, zeit- und kostenintensive Bürokratie, internationale Krisen sowie die Bedrohung von Demokratie und Freiheit. Um die Herausforderungen zu meistern, braucht es starke Unternehmen. Sie stemmen die Transformation, sorgen für Beschäftigung, Innovation und Wettbewerb.
Gerade die exportorientierte Industrie in Baden-Württemberg profitiert wirtschaftlich stark vom EU-Binnenmarkt. Allein im vergangenen Jahr haben baden-württembergische Unternehmen Waren und Güter im Wert von 117 Milliarden Euro in die anderen 26 Mitgliedsstaaten der EU exportiert. Das entspricht rund 47 Prozent des gesamten Exportvolumens Baden-Württembergs.
Die Wahlen zum Europäischen Parlament am 9. Juni 2024 sind daher von enormer Bedeutung für Baden-Württemberg. Wir brauchen auch in Zukunft ein starkes Europa! Es lohnt sich, für die europäische Idee einzustehen. Nur mit einem starken Europa haben wir eine starke Wirtschaft in Baden-Württemberg. Für eine umfassende Neuausrichtung Europas sind strategische Schritte in verschiedenen Bereichen notwendig:
Eine wettbewerbssichernde und transparente EU-Gesetzgebung
Die kumulierten Auswirkungen einzelner EU-Gesetze müssen in ihrer Gesamtheit betrachtet werden, um die bürokratischen Belastungen in verschiedenen Politikbereichen einschätzen zu können. Die Perspektive kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) wird in der EU-Gesetzgebung oft nicht ausreichend berücksichtigt.
- Das von der Europäischen Kommission eingeführte „One-in, One-out“-Prinzip muss für alle EU-Politikbereiche verankert und ab sofort konsequent, wirkungsvoll und deutlicher spürbar umgesetzt werden. Eine verstärkte Koordinierung zwischen Mitgliedsstaaten und ein einheitliches Monitoring müssen sicherstellen, dass bürokratische Entlastungen wirksam umgesetzt werden.
- Folgenabschätzungen sollten zum Standardverfahren werden. Für zukünftige EU-Gesetzgebungen sollte ein Wettbewerbsfähigkeitscheck eingeführt werden.
- Im Hinblick auf den Mittelstand ist die Etablierung des „Think Small First“-Prinzips, längere Konsultationsfristen und eine angemessene Gewichtung von Rückmeldungen von KMU-Organisationen sinnvoll. Ein strikter KMU-Test bei der Folgenabschätzung sowie die Berufung eines KMU-Experten im Ausschuss für Regulierungskontrolle und die Einführung eines EU-KMU-Botschafters könnten darüber hinaus sicherstellen, dass die EU-Gesetzgebung den Mittelstand angemessen berücksichtigt.
- Das Parlament und der Rat müssen mit stärkeren Kontrollfunktionen ausgestattet werden.
- Die Transparenz der EU-Gesetzgebung könnte durch regelmäßige Informationen über laufende Trilog-Verhandlungen gesteigert werden.
Modernisierung vorantreiben und Bürokratie abbauen
Unternehmen, insbesondere KMU, stehen in der EU vor komplexen bürokratischen Hürden. Sie kämpfen mit komplizierten und uneinheitlichen Berichtspflichten, die zu Doppelarbeit und Ressourcenüberlastung führen.
- Die EU muss den Grundsatz der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit einhalten. Sie muss sich auf die wirklich großen Zukunftsfragen konzentrieren, klare Prioritäten setzen und auf die Bereiche beschränken, die auch tatsächlich allein auf europäischer Ebene sinnvoll gelöst werden können.
- Berichtspflichten sollten einfach, verständlich und ohne externe Dienstleister umsetzbar sein. Zusätzlich könnten die Umsetzungsfristen verlängert werden, damit Unternehmen sich vorbereiten können.
- Die EU soll Mitgliedstaaten ermutigen, flexiblere Tarifverhandlungen zu ermöglichen, um erlaubte Ausnahmen für eine moderne Arbeitswelt zu realisieren. Mittelfristig wäre zudem eine präzisere Ausgestaltung der Arbeitszeitrichtlinie nötig, insbesondere eine Klarstellung, um Ausnahmeregelungen für Vertrauensarbeitszeit und mobiles Arbeiten zu schaffen.
Optimierung der EU-Arbeitsmobilität durch Digitalisierung und Vereinfachung
In den letzten Jahren wurden die arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Vorgaben für die Entsendung von Beschäftigten in einen anderen EU-Mitgliedstaat so verschärft, dass der Aufwand für Unternehmen in keinem vernünftigen wirtschaftlichen Verhältnis mehr steht. Schon die Durchsetzungs-Richtlinie zur Entsende-Richtlinie (2014/67/EU), die bis 2016 in nationales Recht umgesetzt werden musste, hat zu einem Flickenteppich an unterschiedlichsten nationalen Meldepflichten und arbeitsrechtlichen Vorgaben geführt. Hinzu kommt die sogenannte A1-Bescheinigung zur Dokumentation der Sozialversicherung. Obwohl diese auf eine europaweit einheitlich geltende Verordnung zur Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme (Verordnung (EG) Nr. 883/2004) zurückgeht, handhaben die EU-Mitgliedstaaten die Beantragungs- und Mitführungspflicht völlig unterschiedlich. Die EU-Institutionen finden seit Jahren keine Einigung zur Lösung des Problems.
- Die Verhandlungen zur Überarbeitung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 müssen endlich mit einer praxistauglichen Ausnahme zur A1-Beantragungspflicht für kurzzeitige Auslandseinsätze (Dienstreisen) abgeschlossen werden. Sollte das nicht funktionieren, muss die EU-Kommission ihren Revisionsvorschlag von 2016 zurückziehen und einen neuen Anlauf starten – dann aber inklusive einer neu zu schaffenden, praktikablen Regelung für mobiles Arbeiten im EU-Ausland, was seit der Covid-Pandemie zunehmend an Bedeutung gewonnen hat.
- Die geplante „eDeclaration“, die sämtliche nationale Meldepflichten für Entsendungen in einer App übersichtlich zusammenführt, sollte schnellstmöglich umgesetzt werden. Die Kommission sollte eine EU-Verordnung vorschlagen, mit deren Hilfe eine europaweit einheitliche, verbindliche technische Lösung eingeführt wird.
- Hilfreich wäre die Einrichtung klarer und aktualisierter nationaler Websites, auf denen die Besonderheiten der einzelnen nationalen Systeme in Bezug auf die Arbeitsbedingungen im Zusammenhang mit der Entsendung von Arbeitnehmern dargelegt werden.
- Geschäftsreisen und Tätigkeiten im Ausland, die nur eine begrenzte Anzahl von Tagen dauern, sollten von der Pflicht zur vorherigen Anmeldung bei den Behörden der Mitgliedstaaten ausgenommen werden.
Europa für Fachkräfte attraktiver machen
Europa ist mit einem zunehmenden Fachkräftemangel konfrontiert. Hier muss auf EU-Ebene und in den Mitgliedsstaaten deutlich gegengesteuert werden.
- Der im November 2023 vorgestellte Vorschlag für einen europäischen Talentpool kann einen wichtigen Beitrag zur Attraktivität Europas für Fachkräfte leisten. Dafür sollte er anfangs auf Sektoren und Berufe mit großem Arbeitskräftemangel fokussiert sein, um später auf die gesamte Wirtschaft erweitert zu werden.
- Um die berufliche Integration von Drittstaatsangehörigen in der EU zu fördern, sollten Finanzmittel für sprachliche Vorbereitung und bürokratische Unterstützung bereitgestellt werden. Zusätzlich sollte die EU-Kommission nationale Empfehlungen aussprechen, um die Anforderungen für Drittstaatsangehörige in Bezug auf die Aufnahme einer beruflichen Erstausbildung zu verringern. Die Mitgliedsstaaten sollten dazu bewegt werden, Hürden wie die hohen Sprachanforderungen zu senken.
- Es bedarf verbesserter Informations- und Beratungsangebote sowie schlanker Anerkennungsverfahren begleitet von einer europäischen Strategie, die die Vergleichbarkeit von Qualifikationen transparent macht und eine unkomplizierte Mobilität innerhalb der EU sicherstellt. Die EU-Kommission sollte außerdem in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten eine europäische Lösung durch SMET (EU-Task Force zur Durchsetzung des Binnenmarktes) vorantreiben, insbesondere bei nicht-reglementierten Berufen.
Den Transformationsprozess der Wirtschaft in Europa fördern, um dem Klimawandel wirksam zu begegnen
Europa hat sich das Ziel gesetzt, bis Mitte des Jahrhunderts klimaneutral zu sein. Das stellt insbesondere Unternehmen vor große Herausforderungen. Industrieanlagen müssen klimaneutral umgerüstet und die Produktion emissionsarm gestaltet werden.
Allerdings hat die EU im Rahmen des European Green Deal in den vergangenen Jahren zahlreiche klima-, umwelt- und verkehrspolitische Vorschriften verabschiedet, die den Unternehmen die Transformation deutlich erschweren und gleichzeitig deren Wettbewerbsfähigkeit nicht in ausreichendem Maße berücksichtigen.
Zudem stellen die hohen Energiekosten in Europa im Vergleich zu anderen großen Wirtschaftsräumen wie den USA einen großen Wettbewerbsnachteil für die Unternehmen dar und reduzieren somit die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Europa.
- Die EU muss den European Green Deal hinsichtlich seiner Wirkung auf den Wirtschaftsstandort überprüfen, klare Prioritäten setzen und Zielkonflikte zwischen einzelnen Maßnahmen (Industrieemissionsrichtlinie, Luftqualitätsrichtlinie usw.) auflösen.
- Der europäische Net Zero Industrie Act (NZIA) muss zu einer industriepolitischen Strategie weiterentwickelt werden, um Anreize für Investitionen in Net-Zero-Technologien zu schaffen, beispielsweise durch die sogenannten Carbon Contracts for Difference (CCfD). In jedem Fall muss Technologieoffenheit hinsichtlich der Strom- und Molekülwende sichergestellt werden, um die Wettbewerbsfähigkeit und Innnovationskraft in Europa zu stärken.
- Die EU muss die Industrie bei der Transformation aktiv unterstützen und nicht nur auf den Preismechanismus des europäischen ETS setzen. Hier gilt es vor allem, grenzüberschreitende Infrastrukturen hinsichtlich verschiedener Energieträger (z.B. Wasserstoff, CO2 sowie erneuerbare Energien) auszubauen, sodass sich Investitionen in neue, klimaneutrale Technologien lohnen und der europäische Energiebinnenmarkt weiter gestärkt wird. Dies erfordert mehr Koordination und Dialog der beteiligten Stakeholder hinsichtlich der Infrastrukturplanung.
- Für eine Transformation der europäischen Wirtschaft hin zur Klimaneutralität sind international wettbewerbsfähige Stromkosten essenziell. Bei einem langfristigen Strommarktdesign muss eine sichere und bezahlbare Energieversorgung ein Kernelement sein. Dafür gilt es, den Ausbau der erneuerbaren Energien sowie den Aufbau von Speicher- und disponiblen Erzeugungskapazitäten anzureizen und durch schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. Die Abschaltung von Kraftwerken muss durch einen entsprechenden Zubau kompensiert und die Gasversorgung bzw. der Bezug sichergestellt und diversifiziert werden.
- Im Zuge des aktuell laufenden European Bidding Zone Review der Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) der EU muss sichergestellt werden, dass eine einheitliche deutsche Strompreiszone aufrechterhalten wird. Dadurch bleibt der Strommarkt weiterhin liquide und hohe Transaktions- und Umstellungskosten sowie Markt-Missbrauch zu Lasten der Verbraucher werden vermieden. Eine hohe Liquidität hält den Strommarkt wettbewerbsfähig und macht Investitionen in erneuerbare Energien, insbesondere hinsichtlich ihres Ausbaus, rentabel.
- In der EU-Verkehrspolitik gilt es Fehlentwicklungen des Fit-for-55 Pakets konsequent zu korrigieren (z.B. hinsichtlich der Alternative Fuels Infrastructure Regulation (AFIR) oder der CO2-Flottenregulierung) und den Hochlauf alternativer Antriebe und grüner Kraftstoffe (insbesondere mit Blick auf die Lade- und Tankinfrastruktur) zu begleiten. Des Weiteren muss die Zusammenarbeit mit Erzeugerländern von Power-to-Liquid verstärkt und Carbon Leakage im Luft- und Seeverkehr verhindert werden. Auch sollte das Digitalisierungspotenzial im Mobilitätssektor konsequent genutzt werden, beispielsweise im Bereich der europäischen Eisenbahninfrastruktur.
Digitalisierung europäischer Unternehmen stärken und technologische Innovationen fördern
Die Vielzahl an europäischen Digitalisierungs- und Innovationsregulierungen erhöht für Unternehmen in der EU die Kosten und erschwert den Digitalisierungs- und Transformationsprozess. Außerdem weist die EU im internationalen Vergleich mit Wettbewerbern eine Innovationslücke auf.
- Für eine zukunftsfähige EU muss die Entwicklung innovativer Technologien gefördert werden, wobei das Prinzip der Technologieoffenheit in allen Bereichen zu beachten ist. Diese neuen Technologien sollten anschließend nicht direkt wieder reguliert werden.
- Für eine echte Innovation ist der Transfer von Forschungsergebnissen in Anwendungen zentral. Die Schnittstelle zwischen Forschung und Entwicklung sowie marktfähiger Skalierung muss durch flankierende politische Maßnahmen gestärkt werden.
- Europäische Forschung und Innovation, zum Beispiel im Bereich Künstliche Intelligenz, aber auch in weiteren strategischen Zukunftsfeldern, muss angemessen gefördert werden. Ganz explizit sollte das Förderprogramm Horizon Europe gestärkt werden, um eine nachhaltige Finanzierung von innovativen Forschungsprojekten zu gewährleisten. Gleichzeitig muss es für Unternehmen attraktiver werden, öffentliche Forschungsförderung zu beantragen. Dazu sollten die Komplexität der Anträge und die Bearbeitungszeiten von Antragstellung über Förderbescheid bis Schlussabrechnung reduziert werden.
- Es ist notwendig, auf europäischer Ebene einheitliche Datenräume für eine bessere europaweite Datennutzung zu schaffen, um schneller neue Geschäftsmodelle entwickeln zu können. Grundvoraussetzung dafür ist der Ausbau der digitalen Infrastruktur. Gleichzeitig gilt es eine gleichförmige Implementierung von Verordnungen wie der Datenschutzgrundverordnung in den EU-Staaten zu erreichen. Das Gesamtziel sollte eine digitale Souveränität der EU sein.
- Start-ups sind ein wichtiger Pfad für schnelle Innovationen. Die bürokratischen Rahmenbedingungen in der EU beispielsweise bei Förderprogrammen muss der Innovationsgeschwindigkeit von Start-ups angepasst werden, um ein frühes Scheitern oder eine Abwanderung zu verhindern.
Diversifizierung der europäischen Wirtschaftsbeziehungen durch multilaterale Handelsabkommen
Die Globalisierung wird durch weltweite Krisen, wie zum Beispiel den Krieg in der Ukraine, und den Wettbewerb mit China auf den Prüfstand gestellt. Dies stellt die EU und insbesondere auch die europäische Wirtschaft vor große Herausforderungen. Um diese zu bewältigen, muss die EU hinsichtlich einer einheitlichen handelspolitischen Agenda dringend aktiv werden. Handelsabkommen sind ein Beitrag zur Stärkung der europäischen Wirtschaft und der Sicherheit.
- Die EU muss eine Führungsrolle bei der Stärkung der Handelsbeziehungen mit Entwicklungs- und Schwellenländern übernehmen und neue Initiativen für Handel und Investitionen starten. Nur so kann eine stärkere Diversifizierung von Lieferketten, z.B. hinsichtlich kritischer Rohstoffe, erreicht werden. Dabei gilt es insbesondere, einen Mittelweg zwischen Nachhaltigkeitsanforderungen an die Handelspartner und strategischen Wirtschaftsinteressen zu finden.
- Global Gateway muss als zentrales Instrument für mehr Diversifizierung und die Schaffung neuer Handelspartnerschaften gestärkt werden. Eine bessere finanzielle Ausstattung und eine schnellere Umsetzung der geförderten Projekte, vor allem im Bereich Transformation und Digitalisierung, ist hierbei dringend notwendig.
- Die EU muss sich für eine einheitliche europäische China-Politik einsetzen. China ist Kooperationspartner, aber gleichzeitig auch Wettbewerber. Daher ist es unbedingt notwendig, dass Europa eine einheitliche Strategie zum Umgang mit China entwickelt, um in Zukunft wettbewerbsfähig zu sein.
- Europa muss die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Afrika intensivieren, um einseitige Abhängigkeiten zu reduzieren, Diversifizierungen von Lieferketten durch Rohstoffallianzen zu vergrößern und das Potenzial bei der Produktion von grünem Wasserstoff auszuschöpfen. Hiervon profitieren nicht nur europäische Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette, sondern auch afrikanische Partner, die dadurch die Industrialisierung ihrer Wirtschaft vorantreiben können.